Benjamn Fellmann
Katalog: SPEECHES, YOU, TUBE AND I KNOW, Kunsthaus Jesteburg, 2013
ARCHÄOLOGIE DER MEDIALEN VERZÖGERUNG
Stefan Mildenberger ist ein junger Medienkünstler, dessen Arbeiten seine große Begabung als Zeichner spüren lassen. Denn seine aufwendigen medialen Auseinandersetzungen mit visuellen Signifikanten des massenmedialen Zeitalters basieren einerseits auf einem ausgeklügelten technischen Aufbau, andererseits aber auf einem untrüglichen Gespür für den bildlichen Ausdruck. Seine Arbeiten kennzeichnen sich durch ihre prägnante visuelle Erscheinung, und zugleich auch, indem sie ihren eigenen Prozess der Bildfindung ausdrücken. Mildenberger wurde in Kirn/Nahe geboren und absolvierte sein Studium an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg unter anderem bei Matt Mullican und Michael Melián. In seinen Arbeiten schafft er Arrangements, die mit technischen Mitteln des Medienzeitalters massenvisuellen Inhalten zu Leibe rücken; das Ergebnis dieses Vorgehens sind Werke, die im Gegensatz zu ihrem Ausgangsmaterial, das auf das Verbergen der technischen Entstehungsprozesse zugunsten einer bildlichen Überwältigung des Zuschauers setzt, gerade im Ausdruck des technischen Vorgangs eine ästhetische Wirkung entfalten, die den Betrachter zwingt, über die medientechnischen Grundlagen der Bilder nachzudenken.
Serielles Arbeiten, ein Verweis auf die technische Reproduzierbarkeit, ist ein Grundcharakteristikum der Arbeit Mildenbergers, die damit schon eine pointierte Aussage über den unablässigen Bilderstrom der Massenmedien treffen, indem sie sich diesen Strom aneignen und zugleich eine ästhetische und technische Verzögerung zum Ausgangspunkt der künstlerischen Reflexion machen. So wählt der Künstler für seine Serie der Jalousie-Collagen Portrait-Aufnahmen von Stars, Berühmtheiten und Ikonen des öffentlichen Lebens des 20. Jahrhunderts, die in einander exakt entsprechenden horizontalen Schnitten jeweils hälftig gegeneinander ausgetauscht werden, so dass der jeweils entstehende, 140 x 100 cm große C-Print Diptychon die veränderten, aber noch erkennbaren physischen Züge und die mit ihnen verbundenen Assoziationen aus dem medialen Diskurs zu überraschenden neuen Bedeutungsträgern vereinigt. Die Verbindung von Uschi Obermaier und Joe Dallessandro etwa schlägt in der Jalousie #33 von 2011 eindringliche Brücken. Die Ikone der sexuellen Befreiung in Deutschland, Obermaier, und der Star der amerikanischen, homoerotisch gefärbten Körperästhetik in der Folge auf Paul Morrisseys und Andy Warhols Flesh, vereinigen sich und verdeutlichen in ihrer scheinbaren Umarmung jene andere, transatlantisch bedeutsame, Umarmung, nämlich die der Massenmedien durch die Motivation zur politischen Überzeugungsarbeit als auch die Populärkultur. Die Ikonen sind Produkt der Medien, aber auch der bewussten Herstellung medial attraktiver Bilder.
Zugleich hält die ästhetische Wirkung von Mildenbergers Arbeiten den Blick des Betrachters im Verstehensprozess gefangen. Wo in den Massenmedien oft genug ein visuelles ‚Zuviel‘ für Überforderung sorgt, enthüllen seine Arbeiten ein ‚Zuviel’ im technischen Aufbau, der uns gemeinhin in den Prozessen unserer Mediensozialisation verborgen bleibt. Dan Graham hielt zu Beginn des Videozeitalters fest, dass Video, anders als Film, eine physische Rückkopplung des Betrachters in Selbstwahrnehmung im Jetzt des Betrachtungszeitraumes ermögliche.[1] Stefan Mildenberger gelingt dies in seinen filmischen Arbeiten, die ebendiese Rückkopplung des Betrachters durch den Einbezug des technischen Aufbaus in die Arbeit vollziehen und damit einen vielseitigen Verstehensprozess einläuten. Sie stellen damit eine konsequente Weiterentwicklung der nun schon traditionellen Linien der Medienkunst dar und überwinden das zentrale Charakteristikum der Medienkritik und Ästhetik der Postmoderne, die Dekonstruktion. Während die frühe Medienkunst ihrer technischen Zeit oft voraus war, wovon etwa technische Entwicklungen Nam June Paiks, Keith Sonniers oder Stephen Becks in den 70er Jahren zur Bildbearbeitung zeugen, bestimmt überwiegend eine Polarität zwischen synthetischem und aufgezeichnetem Bild viele künstlerische Auseinandersetzungen mit elektronischen Möglichkeiten.[2] Die Postmoderne, die ihre Mittel wiederum auf sich selbst richtete, zeichnet sich durch ihre Reaktion auf Vernetzung in einer zunehmend komplexeren Erzählweise und die Bespielung der Oberfläche aus. Mildenbergers filmische Arbeiten greifen die Manipulation und Dekonstruktion des technischen Bildes jedoch dahingehend auf, dass seine künstlerische Praxis das synthetische Bild und das aufgezeichnete Bild nunmehr wieder zusammenführt. Mildenbergers Scantrified Movie: Titanic nimmt dabei eine zentrale Stellung ein. In dieser Arbeit ist James Camerons Film von 1997, der erfolgreichste Film des 20. Jahrhunderts und eine Ikone des Mainstream-Kino, Gegenstand von Mildenbergers technischem Aufbau, der sich ihm schon im Prozess der Gegenstandsfindung aus der medialen Konstruktion von Bedeutung zuträgt, aus populär-medialen Veröffentlichungen der Listen erfolgreicher Filme. Ein Scanner scannt das laufende Bild des Filmes direkt von einem Bildschirm. Da der Scanvorgang ca. 10 Sekunden dauert, wird der Film nach einem Durchlauf angehalten, der Scanner in Position gebracht, und das nächste Laufbild wird gescannt. Die Lauflänge des Films von 194 Minuten teilt sich damit auf in ca. 1164 Einzelbilder, wobei die Kadrierungen nicht verloren gehen, sondern sich in eine neue Darstellung der Bildinhalte übersetzen. Von rechts nach links laufend animiert, werden diese Bilder wiederum filmisch dargestellt, wobei jedes Bild ca. 10 Sekunden über die Bildfläche läuft und die Laufzeit damit dem Film Camerons entspricht. Der Soundtrack des Films ist mit Synthesizern zu einem sphärischen Eindruck umgewandelt, der die eindringliche Wirkung des Films unterstreicht. Die Arbeit führt zu einer doppelten Distanzierung – es wirkt, als fahre das Auge des Betrachters wie der Scanner parallel zum Laufbild, während ein dem Zuschauer gemeinhin sehr gut geläufiger Film sich in unerwartet klare Bilder verfremdet – und leitet damit von einer Verdichtung des ästhetischen Eindrucks zum Erkennen einer individuellen künstlerischen Sprache, die das pasticcio hinter sich lässt. Hito Steyerl hat in ihrer einflussreichen Untersuchung der Erfahrung gesellschaftlicher Bedeutungen in künstlerischen Arbeiten mit Blick auf den Titanic-Mythos in Alan Sekulas dokumentarischen Fotografien von den Dreharbeiten zum Film Titanic im Kontext von Armut und Wassermangel am Drehort im Golf von Mexiko argumentiert, hier zeige sich die „Herstellung einer Realität durch eine Fiktion“.[3] Demgegenüber unternimmt Mildenbergers Auseinandersetzung mit Titanic im Scantrified Movie: Titanic jedoch eine Rückbindung an die Erfahrungsrealität des Betrachters. Seine Arbeit ist Dokumentation des künstlerischen Prozesses und deckt damit die Realität der Fiktion auf: Er unterwirft die mediale Fiktion einer medialen Umformulierung. Der Augenblick der Betrachtung lädt schon zur Reflexion ein, da die technische Reproduktion des Filmbildes die technische Produktion der filmischen Realität aufzeigt. Der Betrachter wird sich so seines eigenen Standpunktes als Teil jenes Massenpublikums bewusst, an das die großen medialen Fiktionen gerichtet sind. Wer sich dem Sog der Bilder in Mildenbergers Scantrified Movie hingibt, geeignet, expressive künstlerische Bildbauten des frühen Films wie in Robert Wienes Cabinet des Dr. Caligari (1920) in Erinnerung zu rufen, stellt fest, dass er nunmehr über die Rolle des Zuschauers hinauswächst: Der Betrachter ist eingeladen, wieder selbst an der Produktion einer Erzählung teilzunehmen, die Übergänge zwischen den verzögerten Bildern selbst mit Leben zu füllen, und wenn dies im einfachsten Falle nur hieße, eine Anstrengungsleistung in der Rekapitulation der eigenen Rezeption des Films zu unternehmen.
[1] Graham, Dan: Essay on Video, Architecture and Television, in: Dan Graham: Video/Architecure/Television. Writings on Video and Video Works 1970-1978, ed. Benjamin Buchloh. Halifax 1979, S. 62-76. Wieder abgedruckt in: Sperlinger, Mike / White, Ian: Kinomuseum. Towards an Artist’s Cinema. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2008, S. 103-112.
[2] Vgl. Helfert, Heike: Raum Zeit Technikkonstruktion. Aspekte der Wahrnehmung, in: Frieling, Rudolf / Daniels, Dieter (Hg.): Medien Kunst Netz. Medienkunst im Überblick. Ein Projekt des ZKM Karlsruhe und des Goethe-Instituts. Wien/New York 2004, S. 162-182.
[3] Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld. Wien 2008, S. 61.
“ Benjamin Fellmann, M.A., ist wissenschaftlicher Koordinator am Warburg-Haus. Medienwissenschaftler und Kunsthistoriker. Er ist Redakteur des in Deutschland, Österreich und der Schweiz erscheinenden Kunstmagazins DARE sowie und als freier Kurator und Kritiker tätig. Im Jahr 2020 erhielt er den Willibald-Sauerländer-Preis für sein Buch Palais de Tokyo. Kunstpolitik und Ästhetik im 20. und 21. Jahrhundert. „